Beitrag zur Strategiedebatte von Achim Kessler, Nick Papak Amoozegar, Gabi Faulhaber, Petra Heimer, Karlheinz Hofmann, Willi van Ooyen, Heidemarie Scheuch-Paschkewitz und Ulrich Wilken
Entscheidend für unsere Attraktivität wird sein, wie wir einerseits klare Positionen (zum Beispiel zur sozialen oder Eigentumsfrage) und unbeugsame Haltungen (zum Beispiel in der Ächtung des Krieges, Ablehnung von Militäreinsätzen und Rüstungsexporten) mit pragmatischen Umsetzungsschritten andererseits verbinden, die zeitlich bereits deutlich vor dem Erreichen des demokratischen Sozialismus attraktive Verbesserungen für das Alltagsleben der Mehrheit bedeuten. Dabei muss in vielen Fällen diese Attraktivität nicht nur in den Augen derer zurückgewonnen werden, mit denen und für die wir uns engagieren, sondern auch für uns selber, damit wir wieder wissen, warum wir politisieren und wofür wir „brennen“.
Im Kern steht für uns die soziale Frage, konkret gestellt! Dies ist viel weitergehender als sozialpolitische Maßnahmen, die darauf zielen, finanziell oder sozial ausgegrenzten Menschen zu helfen oder Menschen vor Lebensrisiken zu schützen. Bürgerliche – und inzwischen leider auch sozialdemokratische – Sozialpolitik beschränkt sich genau auf diesen karitativen Aspekt der sozialen Frage. Aus sozialistischer Perspektive bedeutet die soziale Frage, die Strukturen zu beseitigen, die dazu führen, dass Menschen immer wieder aufs Neue finanziell oder sozial ausgegrenzt werden.
Dazu ist es erforderlich, konkrete politische Fragen in einen Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung von Einkommen und Eigentum zu stellen und daraus radikale Forderungen zu entwickeln. Unsere Forderungen sind nicht verbalradikal, sondern radikal bei der Lösung konkreter Missstände und Probleme. Unser Ziel ist, grundlegende Gesellschaftsveränderung attraktiv zu machen und eine Dynamik in Gang zu setzen, die zu einem glaubhaften linken Projekt führen kann.
Wir bringen die soziale oder Klassenfrage auf eine eingängige und drastische Formel: „Weil Du arm bist, musst Du zehn Jahre früher sterben!“ Unser Ziel ist es, diese dramatische Ungleichheit zu beenden. Dabei sind(nahezu) alle Politikfelder betroffen, da die Ursachen für eine kürzere Lebenserwartungin Arbeits- und Lebensbedingungen, Belastung am Arbeitsplatz, schlechten Wohnungen und schlechter Ernährung, höherer Luftverschmutzung an Orten, wo Menschen mit geringen Einkommen leben, schlechten Bildungschancen oder einem schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung liegen.
Beispiele:
· Durch Steuergeschenke an Reiche und Konzerne entgehen den öffentlichen Haushalten und damit dem Allgemeinwohl viele Milliarden. Seit zwanzig Jahren wird in Deutschland keine Vermögensteuer mehr erhoben. Deshalb sind unsere Straßen und Schulen marode. Bibliotheken und Schwimmbäder werden teurer oder schließen ganz. Die Gewinne der Konzerne steigen enorm und suchen nach neuen Anlagemöglichkeiten, was den Druck zur Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge erhöht. Reiche finanzieren über Stiftungen öffentliche Aufgaben und bestimmen so, wie diese erfüllt werden. Wir fordern deshalb die Einführung einer Vermögensteuer von fünf Prozent bei einem Freibetrag einer Million Euro. Das würde jährlich Mehreinnahmen von 80 Milliarden Euro bringen. Ein starker Sozialstaat statt Almosen der Reichen!
· Durch die Spekulation mit Wohnungen sind die Mieten auf ein unerträgliches Maß gestiegen. Es werden nicht nur zu wenige Sozialwohnungen gebaut, sondern es wurden unzählige Wohnungen privatisiert und damit zu Spekulationsobjekten gemacht. Das Menschenrecht auf eine Wohnung wurde dem Gewinninteresse der Konzerne ausgeliefert. Menschen mit geringen Einkommen werden in schlechte Wohngegenden zum Beispiel an feinstaubbelasteten Ausfallstraßen, in Einflugschneisen von Flughäfen oder Quartiere mit schlechter Bausubstanz verdrängt. Wir fordern deshalb: Für die Versorgung mit günstigem Wohnraum relevante Wohnungskonzerne werden verstaatlicht. Bund und Länder legen ein Sofortprogramm für den Rückkauf und den Neubau von Sozialwohnungen auf. Öffentlicher Grund wird nicht mehr verkauft, sondern allenfalls in Erbpacht vergeben. Spekulation mit Wohnungen zum Beispiel in Form von Immobilienfonds wird verboten.
· Der Zugang zum Gesundheitssystem ist ungleich. Privatversicherte haben schneller Arzttermine. Ärztinnen und Ärzte lassen sich lieber in wirtschaftsstarken Regionen und Stadtteilen mit vielen Privatversicherten nieder. Krankenhäuser, Reha- und Pflegeeinrichtungen werden durch Privatisierung Konzerngewinninteressen ausgeliefert. Wir fordern deshalb: Das Ende der Zwei-Klassen-Medizin durch eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, in die alle einzahlen, ohne Beitragsbemessungsgrenze und unter Einbeziehung aller Einkommensarten. Die private Krankenversicherung schaffen wir ab. Alle Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen müssen in die öffentliche Hand. Die ambulante Versorgung auf dem Land sichern wir mit Medizinischen Versorgungszentren (Polikliniken) in kommunaler Hand.
· Die Veränderung des Weltklimas gefährdet die Zukunft aller Menschen und ist eine soziale Frage, und zwar sowohl in ihren Auswirkungen als auch bei verschiedenen Ansätzen zu ihrer Lösung. Steuern, die auf den Ausstoß von CO2 und somit auf den Verbrauch bestimmter Güter erhoben werden, belasten Arme und Durchschnittsverdiener stärker als Reiche. Außerdem umgehen sie das Verursacherprinzip. Eine verantwortungsvolle Energiepolitik wird durch die ungeheure Macht beispielsweise der Automobil- und Energiekonzerne behindert. Deshalb fordern wir: Maßnahmen zur Rettung des Klimas werden durch eine verstärkte steuerliche Abschöpfung von Unternehmensgewinnen finanziert. Damit mehr Energie dort erzeugt werden kann, wo sie verbraucht wird, muss die Erzeugung und der Vertrieb von Energie in kommunaler Hand dezentralisiert werden. Dazu müssen die Energiekonzerne vergesellschaftet und unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Das gilt auch für Konzerne, wie zum Beispiel die Automobilhersteller, deren Produkte mit einer starken Belastung der Atmosphäre verbunden sind. Großspenden aus der Wirtschaft an Parteien werden verboten, um deren Einflussnahme auf politische Entscheidungen zu erschweren. Die Strafen für Bestechung von Regierungsvertretern und Mandatsträgern werden drastisch verschärft.
· Die Militarisierung der Außenpolitik verhindert Strategien zur Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen und verschlingt viele Milliarden, die zur Schaffung von sozialer Gleichheit und zur Rettung des Klimas dringend erforderlich werden. Deshalb fordern wir: Die Bundeswehr wird aus allen Auslandseinsätzen zurückgeholt. Die Rüstungsausgaben werden schrittweise abgebaut. Nach dem Vorbild Norwegens bemüht sich die Bundesregierung um die Vermeidung und Entschärfung internationaler Konflikte. Der Export von Rüstungsgütern wird verboten. Rüstungsbetriebe werden unter Beteiligung der Belegschaften auf zivile Produktion umgestellt. Dafür legt die Bundesregierung Konversionsprogramme auf, die aus den freiwerdenden Mitteln des Rüstungsetats finanziert werden.
· Vor 15 Jahren wurde das Arbeitslosengeld II eingeführt und das Leistungsniveau auf das Existenzminimum beschränkt. Die Beschränkung auf das Existenzminimum bedeutet für die Betroffenen Armut per Gesetz! Hartz IV bedeutet nicht nur Armut und Entbehrungen, sondern auch eine Schwächung der Arbeiterbewegung. Deshalb fordern wir: Der Bezug von Arbeitslosengeld I wird wieder verlängert und die Anspruchsberechtigung wieder ausgeweitet. Das Arbeitslosengeld II wird durch eine solidarische Grundsicherung von 1050 Euro ersetzt, die Sanktionen werden ebenso abgeschafft wie auch der Zwang, Arbeiten mit geringerer Qualifikation zu übernehmen. Die Überwindung des Hartz-IV-Systems und die Rückkehr zu einer Arbeitslosenversicherung, die soziale Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben garantiert, würde nicht zuletzt auch die Schlagkraft der Gewerkschaften wieder erhöhen. Die Enteignung derjenigen, die den Reichtum in unserer Gesellschaft erarbeiten, wird rückgängig gemacht, dafür wird der Mindestlohn erhöht. Werkverträge, Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit werden verboten.
Das sind Beispiele, wie wir die soziale Frage als Kernaufgabe unserer sozialistischen Partei in das Zentrum stellen: sowohl als Ziel unserer Politik als auch als Versprechen, was wir wie kurzfristig zur Verbesserung der Lebensumstände beitragen können. Vor diesem Hintergrund werden zum Beispiel Fragen, wie viel Interessen wir von Arbeitnehmer*innen ansprechen, wenn wir Politik im urbanen Feld machen, nicht ausgeblendet, aber verlieren an ausschließendem Charakter. Die kapitalistische Wirtschaftsweise beruht auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur. Deshalb haben die soziale Frage und die Klimafrage eine gemeinsame Antwort: die Überwindung dieses Wirtschaftssystems und seiner Eigentumsverhältnisse. Jede Forderung, die wir zur Lösung tagesaktueller Probleme machen, muss einen Bezug dazu haben. – Und selbstverständlich gehört zu unserem Alltag auch, die Arbeits- und Lebensbedingungen in unserer Partei kontinuierlich auf den Prüfstand zu stellen. Das ist uns als streitbarer, aber stets solidarischer Parteiverband selbstverständlich.
Commenti